Not Gottes

 

Zu Rüdesheim am Rhein bewohnte das mannliche Geschlecht der Brömser von Rüdesheim ihre uralte graue Feste, deren Aufbau in die Römerzeit fällt, und weiter stromabwärts ist das Kloster gelegen, welches den wunderbarlichen Namen Not Gottes trägt. Ein Brömser von Rüdesheim zog nach Palästina, tat allda viele mannliche Taten, bezwang viele Sarazenen und kämpfte mit einem Drachen, den er auch erlegte, aber bei dieser Gelegenheit oder bald darauf fiel er in die Hände der Ungläubigen, die ihm schwere Ketten zu tragen auferlegten. Da gelobte er in seinem Kerker, seine Tochter, die er als junges Kind verlassen, dem Himmel zu weihen, wenn sie am Leben bleibe und er in die Heimat zurückkehre.

Und siehe, des Ritters Ketten fielen von ihm ab, der Himmel nahm das dargebotene Opfer an, der Ritter entkam und eilte der Heimat zu. Voller Freude empfing ihn seine schön erblühte Tochter, und er offenbarte ihr sein Gelübte. Da wurde die Tochter bleich wie der Tod - sie war in Liebe einem jungen Ritter zugetan, dessen Hand zugesprochen zu erhalten sie von ihrem Vater zuversichtlich gehofft. Aber es halfen nicht Flehen, nicht Tränen, der Vater glaubte dem Himmel vor allem schuldig
zu sein, sein ritterliches Wort zu halten. Da enteilte die Tochter laut wehklagend der Brömserburg, erklomm den nächsten Felsen und stürzte sich in den Strom hinab.

Groß war des Vaters Schmerz, und da er nun sein Gelübde nicht halten konnte und um des teuren Kindes Schatten zu sühnen, trat er ein abermaliges Gelübde, er wollte ein Kloster erbauen. Es ging aber ein Mond nach dem anderen hin und mochte wohl so kommen, daß der alte Brömser durch alten Rüdesheimer seinen Schmerz hinwegbannte und darüber sein Gedächtnis etwas schwach ward - da hatte er auf einmal ein nächtliches Gesicht: Der Drache, den er in Palästina erlegt, war wieder bei ihm und lebendig und fauchten ihn mit weit aufgesperrtem Rachen an und drohte ihn zu verschlingen mit Haut und Haar. Da sah er die Gestalt seiner
Tochter, die winkte den Drachen hinweg und blickte gar wehmutsvoll auf den Brömser und verschwand.

Am Morgen aber kam des Brömsers Ackerknecht und sagte an, wie er in aller Frühe mit dem Pflug und den Stieren zu Acker gezogen sei, habe er eine klagende Stimme vernommen, die immerfort gerufen: "Not Gottes! Not Gottes!" Und die Stiere hätten nicht anziehen wollen, sondern immer am Boden gescharrt. So gleich begab sich Ritter Brömser selbst hinaus auf das Ackerfeld, und da vernahm
er dieselbe klagende Stimme: "Not Gottes! Not Gottes!", die ganz in der Nähe von der Stelle erklang, wo die Ochsen standen und scharrten, und zwar kam die Stimme aus einem hohlen Baume. Der Ritter rief und suchte, aber er entdeckte nichts.

Da ließ er den Baum spalten, und da entdeckte sich innen am Boden des hohlen Stammes eine Monstranz mit dem heiligen Leib und ein hölzernes Bild des Schmerzensmannes. Als diese Kleinode dem Baum entnommen waren, schwieg die Stimme, und die Stiere waren ruhig. Ein Jude hatte beide heiligen Stücke aus einer nahen Kirche entwendet und allda verborgen. Das erinnerte nun den Brömser stark ab die Erfüllung seiner Gelübdes; er gründete ein Kloster, ließ an des hohlen Baumes Stelle den Altar aufrichten und stellte das Christusbild darauf, und geschahen zu dem Kloster, das Zur Not Gottes genannt ward, und zu dem Bilde viele Wallfahrten rheinab- und -auf, daß öfters an einem Tage sechzehntausend andächtige Waller da waren, und das Bild tat vordem große Wunder.

 

- Quelle: Bechstein 1853, Nr. 73
- Sagen der Rheinlande, Gesammelt und herausgegeben von Hans-J. Uther
- Bouvier Verlag, 1998

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