Die zwei Brüder

 

Unterhalb Sank Goar liegt das Dorf Hirzenach und etwas weiterhin das schöne Kapuzinerkloster Bornhofen, wo sich ein wunderbares Marienbild befindet, nach dem namentlich von kinderlosen Frauen viel gewallfahrt wird, weil sie glauben, durch die Fürbitte des Marienbildes ihren Wunsch, Kinder zu bekommen, erreichen zu können. Über dem Kloster auf zwei besonderen, aber nahe beieinander liegenden Bergen sieht man die Trümmer der beiden verfallenen Schlösser
Liebenfels und Sternenfels, welche schon im 17. Jahrhundert auf Landkarten jener Gegend die beiden Brüder heißen. Die eine einfache Sage berichtet, es seien diese Schlösser von zwei reichen Brüdern erbaut und bewohnt worden, deren Schwester aber, welche blind gewesen, habe für ihr Erbteil drei Andachtsorte, nämlich das genannte Bornhofen und im Rheingau Kidrich und Not Gottes angelegt. Nachmals hätten die beiden Brüder, weil sie in Uneinigkeit geraten, einander ihre Schlösser verheert.

Die Spätere Sage, die übrigens das Schloß Sternberg statt Sternenfels nennt, erzählt, es habe einst auf Liebenstein, seiner Stammburg, ein gleichnamiger Ritter von Liebenstein gelebt. Er habe zwei Söhne gehabt, deren Sinn jedoch sehr verschieden gewesen sei, denn während der eine mehr eine stille Häuslichkeit liebte, war der andere mehr für Prunk und äußeren Glanz eingenommen. Nun befand sich aber auf dem Schloß ein junges Edelfräulein, eine Waise, die der Ritter von Liebenstein nach dem Tod ihrer Eltern zu sich auf sein Schloß genommen hatte, um sie gemeinsam mit seine Söhnen zu erziehen. Sie ersetzte ihm überdies die Stelle einer Hausfrau, denn seine eigene treue Gattin war lange schon gestorben.

Mittlerweile war aber aus der brüderlichen Zuneigung, die die zwei Söhne des Ritters für die mit ihnen erzogene Waise fühlten, ein anderes inniges Gefühl entstanden. Beide hatten sich in das Mädchen verliebt, allein da sie dem jüngeren Sohn den Vorzug zu geben schien, verschloß der ältere, der bescheidenere, seine Neigung tief in die Brust, und so kam es, daß, als sein jüngerer Bruder ihr seine Hand bot, sie diese sofort annahm, ohne zu wissen, wie tief sie dadurch seinen älteren Bruder verletzte. Indes vermochte jener nicht länger das Glück der beiden Liebenden ruhig mit anzusehen. Er begab sich also an den Hof des deutschen Kaisers, um dort seine unglückliche Liebe zu vergessen.

Mittlerweile kam aber der unter dem Namen des heiligen Bernhard bekannte
Abt von Claivaux auch nach Deutschland, um dort den Kreuzzug zu predigen.
Haufenweise strömten die Ritter vom Main und Rhein nach Frankfurt, wo Kaiser
Konrad selbst dem zahlreich versammelten Volk diesen Apostel vorstellte. Seine Beredsamkeit riß alles mit sich fort, und auch nach Liebenstein drang der Ruf dieser allgemeinen Begeisterung, so daß auch der junge Bräutigam davon ergriffen ward und seinem Vater und der betrübten Braut erklärte, daß er mit nach Palästina ziehen und für die Sache der Christenheit sein Schwert ziehen wolle. Alle Vorstellungen und Bitten vermochten nicht, ihn in seinem einmal gefaßten Entschluß abwendig zu machen. Er rüstete sich eilig zur Abreise und eilte mit seinen Mannen zu dem Heer des Kaisers, das sich am oberen Rhein sammelte.

Auch sein älterer Bruder hatte sich der Kreuzfahrt anschließen wollen, als er aber die Kunde erhielt, daß sein jüngerer Bruder bereit das Kreuz genommen und seinen alten Vater und seine Braut schutzlos verlassen habe, da hielt er es für seine Pflicht zurückzubleiben und die Zurückgelassenen ritterlich zu schirmen. Er kehrte also auf die Burg zurück und bemühte sich, seinem greisen Vater die wenigen Tage, die er noch zu leben hatte, so gut als möglich zu versüßen, gegen die Braut seines Bruders aber hielt er sich streng in den Schranken brüderlicher Freundschaft, so daß sie nichts von seinen Gefühlen für sie ahnte, wohl aber selbst seinen einfachen, biederen, herzlichen Charakter mit dem aufbrausenden, veränderlichen Sinn ihres Bräutigams nicht zum Vorteil des letzteren vergleichen lernte. Mittlerweile ließ der alte Ritter seinem jüngeren Sohn eine zweite Burg auf dem benachbarten Felsen erbauen und nannte sie Sternberg. Allein er erlebte den Tag nicht, wo derselbe, was er sehnlichst wünschte, sie mit seiner jungen Gattin
beziehen sollte. Er starb, und so blieb sie unbewohnt, denn sein älterer Sohn mußte auf Liebenstein zurückbleiben, um diese Stammburg gegen die damals so zahlreichen Raubritter zu schützen.


Wiederum waren zwei Jahre vergangen und von dem jüngeren Bruder keine Nachrichten angelangt. Da auf einmal brachten einige rheinische Ritter, die von dem Kreuzzug zurückkehrten, die Nachricht mit, er sei auf dem Rückweg begriffen, es folgte ihm aber eine schöne Griechin, mit der er sich in Konstantinopel vermählt habe. Welch ein Donnerschlag war diese Neuigkeit für den älteren Bruder und die verlassene Braut! Nur darin war ihre Wirkung verschieden, daß die Braut sich starrem Gram hingab und in stiller Ergebung den Treuebruch zu ertragen suchte, der ältere Bruder jedoch in glühendem Zorn gegen seinen leichtsinnigen Bruder entbrannte. Der jüngere Bruder hatte schon unterwegs vernommen, daß sein Vater
die zweite Burg für ihn erbauen lassen. So begab er sich mit der schönen Griechin unmittelbar dorthin und hegte die Hoffnung, seine Braut werde, wie einst die Gräfin von Gleichen, seinen Besitz mit der Fremden teilen wollen. Allein er täuschte sich. Der Bruder verschloß ihm Tor und Burg und die Braut Herz und Kammer. Dies ärgerte den Bruder so, daß er nicht bloß zwischen seiner Burg und der seines Bruders eine starke Scheidewand aufführen ließ, sondern ihm auch noch einen Fehdebrief schrieb. Derselbe wurde auch ausgeführt: Mehr als einmal kämpften die
Knappen der beiden Brüder im offenen Kampf miteinander, und schließlich forderten die Brüder einander selbst zum Zweikampf am Fuße des Berges heraus.

Beide Ritter erschienen auch zur Stelle, und schon sollte der Kampf beginnen, da trat die verlassene Braut des jüngeren plötzlich zwischen sie, ermahnte sie zur Versöhnung und erklärte, daß sie selbst ihrem Bräutigam sein Wort zurückgebe, denn sie sei entschlossen, sich statt des irdischen einen himmlichen Bräutigam zu wählen. Die beiden Brüder gehorchten den Worten der edlen Jungfrau, steckten ihre Schwerter ein und kehrten in ihre Burgen zurück. Sie aber begab sich in das im Tal
liegende Nonnenkloster und nahm hier den Schleier. Während nun aber der ältere Bruder auf Liebenstein bekam Kunde davon und teilte, was er erfahren, dem betrogenen Gatten mit. Voll grenzenloser Wut stürmte der Unglückliche mit gezücktem Schwert in das Gemach seiner treulosen Frau, um an ihr und dem Liebhaber, der täglich auf dem Schloß war, blutige Rache zu nehmen. Beide waren jedoch, durch Vertraute rechtzeitig gewarnt, miteinander in ein fremdes Land entflohen.


Nun eilte der arme, betrogene Ritter nach Liebenstein, trat vor seinen Bruder und bat ihn inständig, das Geschehene zu vergessen, ihm seine brüderliche Liebe wieder zu schenken und die Tage, die er noch zu leben habe, in trauter Gemeinschaft mit ihm zu verbringen, denn daß auch er nie wieder einen Ehebund schließen werde, wisse er ja.


So geschah es auch. Beide verlebten ihre Tage als wahre Brüder, indem sie miteinander Hilfe und Trost bis ans Grab weihten. Die Jungfrau aber verbrachte ebenfalls den traurigen Rest ihrer Tage in der einsamen Zelle des Klosters unter Gebet und Mildtätigkeit und hinterließ ihre reichen Güter frommen Stiftungen und den Armen. Nach dem Erlöschen dieses Stammes fiel die eine Burg an die adlige
Familie der Herren von Schenk zu Oberspay, die andere aber ward als ein kurtrierisches Lehen von dem Kurfürsten von Trier eingezogen.

 

- Quelle: Grässe 1871, Bd. 2, Nr. 113
- Sagen der Rheinlande, Gesammelt und herausgegeben von Hans-J. Uther
- Bouvier Verlag, 1998

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